Die Bourgeoisie, die so lange mit der Regierung des Nationalstaats, in dem sie groß geworden war, nichts zu tun hatte, weil sie sich ausdrücklich an allen öffentlichen Angelegenheiten desinteressiert gezeigt hatte, erlangte ihre politische Mündigkeit durch den Imperialismus. Man hat den Imperialismus vielfach als das letzte Stadium des Kapitalismus bezeichnet; er ist jedenfalls das erste (und vielleicht zugleich auch das letzte) Stadium der politischen Herrschaft der Bourgeoisie gewesen. Wie wenig diese Klasse nach politischer Herrschaft von sich aus drängte, ist bekannt und oft beschrieben worden, wie zufrieden sie mit jeder Regierung gewesen ist, auf die sie sich für den Schutz des Eigentums verlassen konnte. Sie hat wahrscheinlich im Staat nie etwas anderes als eine notwendige Organisation zu Polizeizwecken gesehen. Diese Blindheit und unangebrachte Bescheidenheit hatte zur Folge, daß die Mitglieder dieser Klasse immer in erster Linie Privatpersonen blieben und als solche dachten und handelten; ihr politischer Status ging sie nichts an, und es war ihnen gleichgültig, ob sie Untertanen einer Monarchie oder Bürger einer Republik waren. Für sie waren Monarchie und Republik genau das gleiche, nämlich ein Staat überhaupt, in dem es eine Polizei gab.

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. S. 351, Piper Verlag, Erweiterte Neuausgabe 2023

Seit vielen Jahren, nein, wortwörtlich seit Jahrzehnten verstehe ich bestimmte bürgerliche Haltungen zu gesellschaftlichen Themen nicht. Wenn es um das Zusammenleben, wenn es um das Anerkennen von Realitäten geht und auch wenn es darum geht, für unsere Gesellschaft und für Demokratie Einsatz zu zeigen, bleiben Menschen mit bürgerlichen Haltung oft still. Sie hören sich Dinge an, aber auch wenn Einsichten elementar erscheinen, bleiben sie reserviert, distanziert, manchmal geradezu teilnahmslos. Ist es dieser Arendt’sche Gedanke, der hinter dieser Distanz steht? Ich habe schon ab und an überlegt, ob sie gar nicht an Demokratie hängen, sondern vor allem daran, dass ihre eigenen Rechte gewahrt bleiben. Aber, wie kann ich mich z.B. gläubig nennen und mich dann nur um mich selbst kümmern wollen? Wie geht das zusammen? Wie kann ich sagen, dass ich an die Schöpfung glaube und mich dann nicht dafür einsetzen? Wie kann ich für Nächstenliebe sprechen aber zuschauen, wenn z.B. marginalisierte Menschen angegriffen werden?

Ich betone, ich denke hier laut, dies ist kein Versuch einer Polemik. Es ist einfach der Versuch zu verstehen, was ich schon seit so vielen Jahren einfach nicht verstehen kann. Und Hannah Arendt liefert mir einen möglichen Erklärungsansatz.